Die Kunst des Loslassens
Das Leben aufgeben, um das Leben zu gewinnen. Ein Satz, an den ich in den letzten Tagen häufig gedacht habe, seit ich in einem buddhistischen Buch auf ihn stieß. Wir lernen auch im Yoga, uns von Anhaftungen zu lösen. Denn nur wer frei von Abhängigkeiten ist, sei es materieller oder emotionaler Natur, ist auch wirklich „frei“. So zumindest in der Theorie. Macht Sinn und ist dennoch in der Umsetzung… sagen wir „schwierig“ bis schier unmöglich in unserer westlichen Welt.
Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, befinde ich mich auf dem Absprung. Nach 11 Jahren ist die Zeit gekommen, loszulassen. Berlin. Eine Stadt, in der ich geliebt, geweint, getanzt, gelebt, gelacht, gegrübelt und gelernt habe. Über das Leben, über die Menschen im Allgemeinen und im Besonderen und natürlich auch über mich selbst. Ich habe mich gerne von den Wellen tragen und manchmal leider auch verschlucken lassen, die diese aufregende Stadt zu bieten hatte. Um später wieder zu stranden und neu zu beginnen. Es war wohl eine Brandung zu viel für mich. Ich blicke zurück auf wertvolle Erinnerungen, die mich geprägt haben und die ich in „mein neues Leben“ mitnehme. Ich fange noch mal an.
Yoga war immer mein Begleiter
Ich glaube, nein ich weiß, dass Yoga mich in dieser Stadt über Wasser gehalten hat. Und doch führt mich Yoga auch irgendwie weg von ihr. Denn durch Yoga bin ich in den letzten Jahren immer weicher geworden. Nicht ganz optimal, in einer Stadt, die so hart ist wie Berlin. Ich möchte mein Herz zeigen, ich möchte mit offenen Armen durch’s Leben laufen, ich möchte verletzlich sein dürfen, ohne Angst, daran zu zerbrechen, weil ein „harter Panzer“ vermeintlich sicherer gewesen wäre. Ich sehne mich nach Natur, nach Ruhe, Liebe und Geborgenheit. In Berlin habe ich das zuletzt „nur“ in meiner eigenen Wohnung gespürt. 60 Quadratmeter Frieden nur für mich. Ein bisschen wenig, wenn man bedenkt, wie groß Berlin doch ist. So frei und voller Möglichkeiten sich die Stadt am Anfang für mich anfühlte, so beengt zeigte sie sich gerade jetzt in den letzten Monaten für mich. Ich bin durch Yoga noch so viel feinfühliger und empfänglicher für die Gefühle und Energien anderer Menschen geworden, dass ich es zeitweise kaum aushielt. Diese wunderschönen „Gaben“ und Fähigkeiten, die ich durch Yoga schärfen konnte, schienen für mich in Berlin mit all seinen traurigen Figuren und Schicksalen eher hinderlich.
11 Jahre Berlin im Schnelldurchlauf
Mit dem Gedanken gespielt, Berlin den Rücken zuzukehren, habe ich schon häufiger mal in den vergangen Jahren. Doch dann zeigte sich die Stadt immer wieder von ihrer guten Seite und ich entschied zu bleiben. Ich bin unsagbar glücklich über meinen wundervollen Freundeskreis, den ich hier aufgebaut habe und natürlich auch darüber, wie sich mein Yogaweg entwickelt hat. Ich bin dankbar für all die verrückten Möglichkeiten, die Berlin mir geboten hat, um mich persönlich wie auch beruflich weiterzuentwickeln. Und dennoch: ich bin gestolpert. Nicht einmal, auch nicht zweimal…. gefühlt unzählige Male. Und immer wieder über die gleichen Dinge. Egal, wie sehr ich an mir selbst gearbeitet, reflektiert und Dinge ver-/ geändert habe: unterm Strich fühlten sich die letzten Jahre leider immer wieder an wie eine endlose Wiederholung der immer gleichen „Jana Show“. Und ich könnte es selbst nicht treffender sagen als das: Wenn eine Pflanze eingeht, dann änderst du nicht die Pflanze, sondern erstmal die Umgebung, in der sie ist. Und genau so fühle ich mich mittlerweile. Ich bin eine zarte Pflanze mit starken Wurzeln, die, egal, welchen Raum du ihr in Berlin gibst, einfach nicht mehr richtig wachsen will.
Ich habe häufiger in den letzten Jahren davon gesprochen, zu gehen. Doch wohin, war mir nicht so richtig klar. Was könnte schon „cooler“ als Berlin sein? Und zurück in die Kleinstadt? Sicher nicht! Ich glaube, mir gefiel das Bild, das ich selbst und wahrscheinlich auch andere von mir hatten, wenn ich ehrlich bin. Jana, die mit 18 vom Dorf erst nach Hamburg zieht, dann weiter nach Aschaffenburg, um dann in Berlin zu leben. Aufregend. Kleinstadt? Du siehst mich nie wieder! Es gab immer was zu erzählen und ich könnte Bücher füllen, über die Tage und vor allem Nächte, die ich in den ersten Jahren in Berlin erlebt habe. Dann starb mein Vater. Und ich verlor den Boden unter den Füßen. 8 Jahre ist das nun her. Es folgte zuerst die „ich will das Leben jetzt so richtig genießen“-Phase, bis diese unglücklicherweise in totaler Haltlosigkeit endete. Viele Yogastunden, Klinikaufenthalte, Therapien, Coachings, Retreats, Healings später stehe ich nun an einem völlig anderen Punkt. Und dennoch in der selben Wohnung, die ich noch damals voller Aufregung mit meinem Papa ausgesucht und eingerichtet habe. Die Möbelstücke sind in den vergangenen Wochen schon gewichen. Ohne, dass ich wusste, dass auch ich selbst bald „weichen“ würde.
Sackgasse, mal wieder.
Im November vergangenen Jahres, eine Woche vor meinem 33. Geburtstag, trennten mein Freund und ich uns. Ich zog zurück in meine Wohnung, die ich untervermietet hatte. Und stand gefühlt wieder vor dem Nichts. Kein Freund, kein Job, keine Aussicht auf ein Leben mit eigener Familie, die ich mir so sehr wünschte. Hinzu kamen Rechnungen, Jobabsagen, Steuernachzahlungen, Post von der Rentenversicherung… Ich war ratlos… um es mal milde zu sagen. Der November und Dezember schlichen dahin. Den Jahreswechsel, den ich im Jahr zuvor noch so hoffnungsvoll und positiv wie lange nicht gefeiert hatte, verbrachte ich schon um 21 Uhr alleine unter meiner Bettdecke, traurig darüber, wie 2019 endete.
Trotz Yoga, der besten Freunde, die man sich nur wünschen kann und täglichen Meditationen zu meinem Vision Board: ein Zeichen, wie es weitergehen soll, blieb aus und ich verlor mehr und mehr die Hoffnung darauf, dass es wieder bergauf gehen würde. Meine Corporate Yogastunden liefen zum Glück weiterhin gut und boten mir einen Anker, worüber ich sehr dankbar war. Dann erhielt ich im Februar ein richtig gutes Jobangebot, das ich auch annahm. Und plötzlich lief wieder alles. Besser, als ich es mir hätte erträumen können. Ich hatte einen tollen Job mit den besten Kollegen, die man sich nur wünschen kann für einen Arbeitgeber, hinter dem ich 100% stand. Meine Yogakurse waren gut besucht und ich hatte ausreichend Freizeit, meine Freunde zu sehen und Dingen nachzugehen, die mir gut taten. Ich war zufrieden und blickte wieder positiv nach vorne.
Corona beschleunigt Entscheidungen
Dann kam Corona. Zack, war ich meine Festanstellung wieder los und klopfte, wie so viele andere auch, an die Tür des Arbeitsamts. Die ersten Wochen war ich super positiv, nutzte die Zeit, meine Wohnung zu renovieren, auszumisten, Dinge zu verkaufen, zu malen, kochen, lesen, meditieren… Ich war hoffnungsvoll, dass es weiter ging, denn die letzte Krise zeigte mir: es geht immer weiter. Egal, wie und wann, aber es geht weiter. Die Wochen verstrichen (wo wir jetzt auch langsam zur aktuellen Situation komme) und ich fühlte mich zunehmend unwohler. Berlin zeigte sich mal wieder von seiner egoistischsten und hässlichsten Seite. Ich fühlte mich in meinen 60 Quadratmetern mit Blick auf die Hochhäuser „eingesperrt“. Mir setzte der Lärm und die Ruppigkeit dieser Stadt mehr und mehr zu. Ich merkte, wie jeder Schritt vor die Tür anstrengend wurde und mir so viel Energie raubte. Diese Unabhängigkeit und Freiheit, die ich noch vor Kurzem so stark spürte, fühlte sich mehr und mehr wie Haltlosigkeit, ja freier Fall an. Ich war allein. Wenn man seine Freunde, die man sonst so regelmäßig sieht, plötzlich nicht mehr treffen kann, merkt man erst, wie alleine man ist. Jeder hatte „irgendjemanden“ (Partner, Kinder, Haustier) oder „irgendetwas“ (Job). Ich hatte… nichts.
Wenn du merkst, wie alleine du bist
Wenn du weder das eine, noch das andere hast, merkst du erst, wie alleine du bist. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder du zerbrichst daran und das war’s oder du stehst auf und nimmst es selbst in die Hand, wie es weiter gehen soll für dich. Ich habe mich für die zweite Option entschieden. Ich habe viel gegrübelt und lag Nächte lang wach. Nach 11 Jahren geht man auch „nicht mal eben so“. Mit Anfang 30 ziehst du nicht „einfach so“ noch mal wo anders hin, wie du es in deinen 20ern getan hast und schon gar nicht ohne Aussicht auf eine Anstellung oder eine Wohnung. Normalerweise ist man dann mehr oder weniger angekommen. Doch ich merke: ich muss loslassen. Ich habe 11 Jahre in Berlin die immer gleichen Dinge in unterschiedlichsten Facetten erlebt. Und stehe, jetzt mit 33 Jahren, gefühlt immer noch am gleichen Punkt wie damals. Kein fester Partner, kein fester Job. Weder das eine noch das andere in Aussicht.
Loslassen, damit Neues kommen kann
So schwer, wie es mir fällt, aber ich muss loslassen. Ich möchte dem Leben, das ich mir wünsche, eine Chance geben. Ich möchte die Umgebung ändern, in der Hoffnung und ja, im tiefen Vertrauen darauf, dass dieser Umgebungswechsel mir die Möglichkeit gibt, sowohl beruflich als auch privat mein Glück zu finden. Wisst ihr, wenn sich nur einer meiner Träume dahingehend erfüllt, dann bin ich schon glücklich. Ich erhoffe mir gut laufende Yogakurse, ich möchte wieder in Unternehmen unterrichten und wünsche mir eine gut bezahlte Teilzeitanstellung für ein Unternehmen, hinter dem ich ethisch stehen kann.
In Berlin, wo gefühlt jede*r zweite Yogalehrer*in ist (was ja prinzipiell toll, nur aus wirtschaftlicher Sicht für das Individuum eher semi gut ist) und die Start Up Szene Minigehälter zahlt, von denen man gerade mal so seine Fixkosten decken und alles andere als Träume leben kann, ist für mich die Reise hier zu Ende. Ich denke, ich habe wirklich das Beste daraus gemacht und kann mich absolut nicht beschweren, denn ich habe jede noch so kleine Chance, die sich mir in den vergangenen Jahren bot, ergriffen. Ich war fleißig und habe geschuftet, ich habe mich persönlich weiterentwickelt, ich habe Jobs gemacht, die die Miete zahlten und war mir für keine Anstrengung „zu schade“. Ich war hoffnungsvoll, habe geträumt, war offen für die Liebe und habe mich nach jeder Enttäuschung unvoreingenommen auf neue Begegnungen eingelassen.
Doch ich möchte nicht mit 40 oder 50 auch noch hier sitzen und meine Endlosschleife abspielen. Ich muss es jetzt noch mal wagen, damit ich es mir „am Ende“ nicht vorwerfen, sondern sagen kann: ich habe alles versucht und immer den mutigen Weg gewählt. Die letzten Zeilen klingen, jetzt wo ich sie lese, etwas traurig. Das sind sie aber nicht. Ich bin hoffnungsvoll und entschlossen. Ich wage, was ich vielleicht schon viel früher hätte wagen sollen und was ich wohl, ohne den Schubs von Covid, sicher nicht getan hätte: das Loslassen. Was mich, egal wo auch immer ich lande, begleitet: Yoga.